Rhythmen und Rituale

Wir alle haben in unserem alltäglichen Leben einen bestimmten Tages- und Wochenrhythmus entwickelt und jeder hat seinen eigenen Rhythmus, selbst die Freiheitsliebendsten, Kreativsten und Flexibelsten unter uns.

Der Tages- und Wochenrhythmus unserer Kinder und ihre äußerlich vorgegebenen Strukturen verändern sich gerade massiv, und viele Rituale, die die Schule und das öffentliche Leben betrafen, fallen weg.
Das vermittelt Unsicherheit. Diese Unsicherheit trifft auf Kinder, die in den vergangenen Monaten in der Schule schon zahlreiche Bedürfnisse unterdrücken mussten und oft gedemütigt wurden, dadurch dass sie Masken tragen, Abstand halten und häufig ihre Hände waschen müssen und indem ihnen das Gefühl vermittelt wird, dass sie für andere Menschen gefährlich seien.

Viele Kinder zeigen jetzt schon Traumafolgestörungen durch die Corona-Maßnahmen.
Ja, die Gesellschaft ist für viele Menschen gerade kein sicherer Ort mehr. Rhythmen und Rituale bieten Sicherheit und Halt. Je psychisch vorbelasteter und anfälliger ein Kind ist, desto wichtiger sind für dieses Kind Rhythmus und Rituale.

Deshalb möchte ich hierzu einige Überlegungen anstellen – zu einer Zeit, in der wir auf das vergangene Jahr zurückblicken und auch auf das kommende Jahr schauen.

Normalerweise geben Arbeit, Schule und Kindergarten, Sportverein, Musikstunden und Kurse Zeiten vor und strukturieren unseren Tag und unsere Woche. Bei manchen kommt noch die Versorgung eines Haustieres, regelmäßige Putzzeiten, eine regelmäßig wiederkehrende geliebte Fernsehsendung, die Gartenpflege, der sonntägliche Gottesdienst, feste Treffen oder ähnliches dazu. Dazu das Einkaufen und die Mahlzeiten, wo jeder seinen eigenen Rhythmus hat: Manch einer kauft häufig ein, ein anderer macht einmal pro Woche einen Großeinkauf. In manchen Familien werden alle Mahlzeiten regelmäßig gemeinsam eingenommen, in anderen Familien isst man nicht immer gemeinsam.

Die Wochentage sind dabei anders als das Wochenende, und auch Samstag und Sonntag unterscheiden sich in den meisten Familien. Früher kehrte ab Samstagmittag mehr Ruhe ein, da die Geschäfte um 13 Uhr schlossen. Heute kann man den ganzen Samstag über einkaufen. Der Sonntag hingegen ist in Deutschland noch gesetzlich geschützt und die Geschäfte sind geschlossen.

Der Rhythmus bezeichnet dabei das regelmäßig Wiederkehrende und umfasst den zeitlichen und örtlichen Rahmen. Rituale betreffen die Gestaltung, „wie wir es immer machen“. Dabei gibt es Gruppenrituale, Familienrituale und Einzelrituale.

Während der Rhythmus dem rhythmischen Ein- und Ausatmen der Lunge und dem rhythmischen Herzschlag entspricht, entspricht das Ritual eher der seelischen Komponente des Atmens und des Herzens: Es lässt entspannt tief atmen und berührt das Herz.

Oft ist der Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus von Ritualen begleitet.

Der Tagesrhythmus und seine Rituale

Abendrituale

Fast jede Familie hat ein bestimmtes Abend- und Einschlafritual, das den Kindern hilft, zur Ruhe zu kommen und sich vom Tagesgeschehen zu verabschieden. Eine vorgegebene Uhrzeit ist hilfreich, eine feste Reihenfolge Ausziehen-Waschen-Zähneputzen und dann im Bett ein tägliches rückblickendes Gespräch über den Tag, eine Geschichte, ein Lied und/oder ein Gebet. Jede Mutter und jeder Vater, die dies pflegen, weiß, wie sehr dieses Ritual das Ins-Bett-Bringen erleichtert. Jetzt kommt dies und jenes – es ist einfach so.

Kinder, die kein derartiges Abendritual haben, rebellieren oft und wollen nicht ins Bett. Der äußere Rahmen muss dann mit viel Kraftaufwand immer wieder neu geschaffen werden.

Wenn der äußere Rhythmus hingegen vorgegeben ist, kann sich der Mensch auf das innere Erleben konzentrieren: auf das Erzählen beim rückblickenden Gespräch, auf die Geschichte, auf das Gebet.

Der wiederkehrende Rhythmus (jeden Abend ungefähr dieselbe Uhrzeit, dasselbe Bett) und das Ritual geben einen Rahmen vor, der Sicherheit schenkt und Ruhe vermittelt. Wie sehr unsere Kinder an diesen Ritualen hängen, sehen wir daran, wie sie oft auf jeden einzelnen Bestandteil bestehen: Wir dürfen die Geschichte nicht weglassen, auch wenn wir vielleicht mal aus irgendeinem Grund „spät dran“ sind. Wir können dann höchstens eine kürzere Geschichte auswählen – aber das Ritual muss „vollständig“ erhalten bleiben.

Unsere Kinder spüren intuitiv, dass ihnen ein regelmäßiger Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus mit den dazugehörigen Ritualen gut tut und deshalb erinnern sie uns immer wieder daran und bestehen oft darauf, dass alles wieder so ist „wie letztes Mal“ oder „wie immer“.

Regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten

Ankerpunkte im Alltag sind die Mahlzeiten. Sie strukturieren den Tag: Je eine Mahlzeit am Anfang und gegen Ende des Tages und eine in der Mitte. Die Familie oder Teile der Familie kommen zusammen. Von da aus geht jeder seinen Weg – um sich zur nächsten Mahlzeit wieder zu versammeln.

Der regelmäßig gleiche morgendliche Ablauf hilft allen, nichts zu vergessen und zur rechten Zeit aus dem Haus zu kommen. Das regelmäßige Frühstück schenkt die Energie bis zur Pause oder bis zum Mittagessen. Dabei hat jeder Mensch seine eigenen Gewohnheiten. Immer dasselbe nährende Frühstück und nicht ständig neu entscheiden zu müssen, was man isst, hilft, die Gedanken auf den Tag zu lenken – „Du weißt doch, was ich morgens mag.“

Das gemeinsame Mittagessen ist eine erste Rückkehr von den verschiedenen Aktivitäten eines jeden Familienmitglieds. Die Erlebnisse eines jeden werden ausgetauscht. Auch hier gibt es zumeist Rituale: Schon die Begrüßung des Heimkehrenden ist von Bedeutung. Es ist nicht egal, dass jemand zur Tür hereinkommt, und es ist ein großer Unterschied, ob das Kind selbst die Tür aufsperrt und dann einfach da ist oder ob die Mutter die Tür öffnet und den Heimkehrenden begrüßt.
Jemand hat gekocht und den Tisch gedeckt. Jedes Familienmitglied hat seinen festen Sitzplatz. Man wünscht sich einen guten Appetit und beginnt gemeinsam. Manche Familien stellen eine Kerze in die Mitte oder sprechen ein Gebet. In manchen Familien verteilt ein Elternteil das Essen, in anderen bedient sich jeder selbst. Jeder darf das essen, was ihm schmeckt.
Wenn diese äußeren Dinge geregelt („regelmäßig“) sind, dann bleibt Raum, Zeit und Energie für das Gespräch. Dann darf das, was jeden bewegt, ausgesprochen werden.

Dasselbe gilt für das Abendessen. In vielen Familien ist das Abendessen die einzige Mahlzeit, bei der alle Familienmitglieder beisammen sind. Auch diejenigen, die den ganzen Tag außer Haus waren, und auch die Kinder, die Nachmittagsunterricht hatten, sitzen jetzt zusammen. In manchen Familien gibt es jetzt die warme Mahlzeit des Tages, in anderen gibt es ein Abend“brot“, vielleicht mit Rohkost oder einem Salat.

Das alles klingt vielleicht sehr idealistisch und ist in dieser idealen Form sicher nicht immer da. Wenn wir uns der Bedeutung dieser Elemente aber bewusst sind, dann können wir immer mehr rhythmische Elemente und Rituale pflegen. Und wir werden sehen, wie unser Familienalltag leichter wird und wir weniger Kämpfe haben und wie gut es v.a. unseren jüngeren Kindern tut.

In einer Familie mit einem regelmäßigen Rhythmus und vielen Ritualen wachsen die Kinder in der Gewissheit auf: „Es ist immer so. Es wird auch morgen so sein. Darauf kann ich mich verlassen.“ Und das vermittelt ihnen ein Gefühl der Sicherheit.

Ausnahmen bestätigen die Regel – das gilt auch hier. „Heute machen wir es mal anders“ – dann ist das etwas Besonderes, und es wird wie ein kleines Fest wahrgenommen, wenn von der Regel einmal abgewichen wird. Eine Regel ist kein starres Regelwerk, sondern eine Stütze für den Alltag. Wenn es aber keine oder nur wenige Regeln und Rituale gibt und Dinge immer wieder anders sind, dann kann man nicht mehr von Regel sprechen und dann wächst das Kind mit einer Gewissheit auf: „Es ist alles unsicher. Ich kann mich auf nichts verlassen. Alles kann jederzeit anders sein.“

Hausaufgaben

Auch für die Hausaufgaben sollte ein fester zeitlicher Rahmen da sein. Hilfreich sind ein regelmäßiger Zeitpunkt (der natürlich an manchen Wochentagen aufgrund anderer Termine abweichen kann) und ein fester Ort (der auch der Küchentisch sein kann).
Das eine Kind bewältigt die Hausaufgaben ohne Mühe alleine an seinem Schreibtisch im Kinderzimmer, das andere hat gern die Mutter in der Nähe oder benötigt vielleicht sogar ihre Unterstützung. Das liegt nicht immer nur am Kind, sondern oft auch an der Art der Hausaufgaben und ihrer Vorbereitung durch den Unterricht!
In jedem Fall ist es wichtig, bei den Hausaufgaben eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln, frei nach Mark Twains Motto „Für mich gibt es wichtigeres im Leben als Schule“.
Manche Lehrer sagen im Unterricht: „Macht den Rest des Arbeitsblattes zuhause fertig!“ Ein schnelles Kind hat dann nur noch wenige Hausaufgabem, ein langsameres dagegen noch sehr viele. Ich persönlich habe meinen Kindern häufig den neuen Lerninhalt noch einmal auf meine eigene Weise erklärt, bevor sie mit den Hausaufgaben begannen (s.a. dazu meine Heftvorschläge auf meiner Website unter „Materialien“). Das kostet zwar Zeit, aber dann gehen die Hausaufgaben oft ruckzuck. Auch kann man mit der Lehrerin vereinbaren, dass man es noch einmal erklärt und das Kind dann nur noch einige Aufgaben machen muss, die es dann aber verstanden hat. Oder man diktiert einfach den Rest.

In keinem Fall sollten die Hausaufgaben die Beziehung zwischen Eltern und Kindern beeinträchtigen!!! Wir Eltern sind keine Erfüllungsgehilfen der Schule!

Keinesfalls sollte ein Grundschulkind mehr als 1,5 Stunden Hausaufgaben täglich machen! Bleiben wir mit den Lehrern im Gespräch und treffen wir bei Bedarf Vereinbarungen, z.B. auch, dass wir ins Hausaufgabenheft schreiben können: nach 1,5 Stunden die Hausaufgaben beendet.

Wochen- und Jahresrhythmus

Auch die Tätigkeiten innerhalb des Wochenrhythmus sind oft von Ritualen begleitet.
Mittwochs fährt jemand vielleicht nach dem Sporttraining immer beim Bäcker vorbei, an einem bestimmten Tag in der Woche holt Papa das Kind von der Schule ab, nach der Musikstunde plaudern wir immer noch mit einer anderen Mutter usw.
Am Wochenende haben die meisten Familien auch eine Art Rhythmus. Wir haben samstagvormittags immer mit unseren vier Kindern gemeinsam geputzt. Jedes Kind hatte seine feste Aufgabe und dann gab es noch kleinere Aufgaben, die beim samstäglichen Frühstück jedes Mal neu verteilt wurden. Sonntags gingen wir viele Jahre lang gemeinsam zum Gottesdienst mit anschließendem Eis- oder Döner-Essen, je nach Jahreszeit.

Dann gibt es die wiederkehrenden Feste und Feiern wie die Geburtstage, Ostern, Advent und Weihnachten. Je mehr wiederkehrende Rituale es da gibt, umso mehr werden diese Feste das Herz erwärmen und in Erinnerung bleiben. Wie wird das Geburtstagskind geweckt – vielleicht mit einem Geburtstagslied? Welche besonderen Momente innerhalb dieses Tages gibt es? Gibt es das Lieblingsessen und den Lieblingskuchen? Vielleicht gibt es eine wiederkehrende bestimmte Dekoration. Auf die Gestaltung der Geburtstage sollten Eltern großen Wert legen, denn es betrifft nicht viele Jahre: Ab dem 12. oder 13. Geburtstag sind Geburtstagsfeiern oft „out“. Doch diese wenigen besonderen Tage und wie diese gestaltet wurden wird in lebenslanger Erinnerung bleiben – positiv oder manchmal auch negativ.

Die zahlreichen möglichen Weihnachtsrituale brauche ich hier nicht aufzuzählen. Adventskalender, Adventskranz und Tannenbaum sind für Kinder ein „Muss“, ebenso wie das gemeinsame Plätzchen-Backen und eine etwas weihnachtlich geschmückte Wohnung oder Haus.
Einen Schatz an Weihnachtsliedern zu kennen, die in der Vorweihnachtszeit und an Weihnachten gesungen werden, lässt den ganzen Körper an der weihnachtlichen Stimmung teilhaben und ist ein Geschenk für die Seele (s. meine Abhandlung über das Singen). In einem christlich geprägten Elternhaus können in der Adventszeit allabendlich Geschichten aus dem Alten Testament vorgelesen werden (hierzu empfehle ich die ansprechende Kinderbibel von Anne de Vries). Manche Familien stellen am 4. Dezember Barbarazweige auf, die dann an Weihnachten blühen. Auch der Nikolaustag am 6. Dezember kann sein Ritual haben.
All diese Rituale zu diesem im Jahreslauf wiederkehrenden Fest sind gut für die Seele. Sie sprechen uns mit allen Sinnen an: riechen, schmecken, sehen, hören und fühlen und vermitteln uns ein Gefühl der Geborgenheit: Obwohl es draußen nun früh dunkel ist und die Sonne wenig scheint, können wir es uns selbst hell und schön machen.
Jetzt einen neuen Rhythmus und neue Rituale finden

Die Corona-Maßnahmen haben unser Leben durcheinandergebracht und uns eines großen Teils unseres Tages- und Wochenrhythmuses und vieler außerhäuslicher Rituale beraubt. Sporttraining und oft auch Musikunterricht fallen aus. Auch arbeiten viele Väter (und auch Mütter) im Homeoffice und sind nun oft den ganzen Tag zuhause. Kinder haben manchmal wechselnden Präsenzunterricht, Distanzunterricht oder sind vielleicht sogar in Quarantäne.

So fällt der alte Tagesrhythmus oft weg, es kann aber auch nur schwer ein neuer Rhythmus gefunden werden, weil sich die Situation häufig und oft kurzfristig ändert.

Der Vater kann sich vielleicht auf Homeoffice einstellen, doch die Schule ändert ihre Vorgehensweise immer wieder. Die Zeitvorgaben für Kinder ähneln damit teilweise denen eines Schichtarbeiters, der erst kurzfristig seinen Dienstplan mitgeteilt bekommt.

Der gewohnte Tagesrhythmus fällt weg

Der Tag wurde bisher durch die Anwesenheitspflicht an der Schule gemäß dem Stundenplan und bis vor einigen Monaten auch durch Sporttraining, Musikunterricht und/oder Hort strukturiert. Vieles davon ist nun weggefallen und damit sind auch die Rituale weggefallen, die damit in Zusammenhang standen oder die in Schule und Hort gepflegt wurden.

Wie können wir damit umgehen?

Versuchen wir trotz der äußeren Unsicherheiten Rituale zu finden, die immer gelten, z.B.:

  • einmal täglich Bewegung, ein Spaziergang, ein tägliches kurzes Gymnastik-, Qi Gong- oder anderes -programm im Wohnzimmer und ähnliches zu einer bestimmten Zeit
  • Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen; evtl. werden die Kinder jetzt mehr ins Kochen miteinbezogen
  • evtl. ein ausgiebiges gemeinsames Frühstück
  • z.B. regelmäßiges tägliches Üben des Instruments
  • dem Abendritual auch bei größeren Kindern (evtl. wieder) eine besondere Bedeutung geben; auch über das Grundschulalter hinaus können wir unseren Kindern (evtl. wieder) Geschichten vorlesen

Hier sind unserer Phantasie keine Grenzen gesetzt und wenn wir uns der Bedeutung des Rhythmus und auch zunächst scheinbar unbedeutender Rituale bewusst sind, werden uns Dinge einfallen, die zu unserer persönlichen Situation passen. Vielleicht können wir auch unseren Partner/unsere Partnerin oder ältere Geschwister miteinbeziehen.

Wir können jetzt auch neue Rituale einführen, an die sich unsere Kinder später erinnern werden als Rituale dieser ganz besonderen Zeit.
Das kann eine einfache Kerze sein, die während der Mahlzeiten nun auf den Tisch gestellt wird. Oder wir bereichern das Abendessen um eine gesunde Rohkost, um unser Immunsystem zu stärken. Oder …
Ich empfehle auch an dieser Stelle wieder das Tagebuch-Schreiben oder in irgendeiner Form das Dokumentieren der Tagesereignisse, einerseits um dem Erlebten und den eigenen Gedanken und Gefühlen einen Ausdruck zu verleihen und auch als persönliches zeitgeschichtliches Dokument für später. Auch das kann zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages stattfinden.

  1. Szenario: Es gibt verschiedene Rhythmen durch Wechselunterricht

An manchen Tagen müssen die Kinder nun zur Schule gehen, an anderen nicht, manchmal gibt es Online-Unterricht oder viele Aufgaben aus der Schule, an anderen nicht usw.

Wir können z.B. zwei verschiedene Rhythmen entwickeln: einen Rhythmus für einen Tag mit Präsenzunterricht, einen anderen – aber wiederkehrenden Rhythmus – für die Tage ohne Präsenzunterricht.

Wir können auch andere Lösungen finden. Wir sollten uns nur bewusst sein, dass dies für unsere Kinder eine sehr schwierige Situation ist, die Unsicherheit erzeugt, auch wenn wir die Auswirkungen nicht sofort merken. Wir können ihnen aber hier viel Halt bieten.

  1. Szenario: Die Schule setzt die Präsenzpflicht aus

Es gibt Überlegungen, den Unterricht auszusetzen oder ganz oder teilweise auf Online-Unterricht umzustellen. Welchen neuen Rhythmus finden wir hier?

Können wir vielleicht selbstständiges Homeschooling machen oder darf unser Kind frei lernen? Dann können wir unseren eigenen Tagesrhythmus aufbauen.
Oder muss es vielleicht stundenlang vor dem Computer sitzen, wie es schon an vielen Schulen in Baden-Württemberg der Fall ist?

Wenn der äußere Rahmen wegfällt, aber trotzdem viele Arbeitsanweisungen aus der Schule kommen, vergessen wir nicht die Work-Life-Balance! Was für uns Erwachsene gilt, gilt für Kinder erst recht!
In den vergangenen Jahren wurde immer wieder darüber diskutiert, wie man als Erwachsener im Homeoffice „abschalten“ kann: Es gehört zuhause viel mehr Disziplin dazu, die Zeit der Arbeit für beendet zu erklären und die Zeit der Erholung und der selbstbestimmten Freizeit einzuläuten, da die räumliche Zuordnung wegfällt.
Hier sind wir Eltern aufgefordert, den Kindern eine Struktur vorzugeben, ja direkt vorzuschreiben.
Was können wir z.B. tun?
Wichtig ist eine ZEITLICHE BEGRENZUNG der schulischen Distanz-Aufgaben als auch der Hausaufgaben. Ich hatte z.B. eine Zeitlang mit einer Lehrerin vereinbart, dass ich nach einer Stunde Hausaufgaben darunter schreibe, dass mein Sohn in einer Stunde bis hierher gekommen ist. Mehr musste er dann nicht machen. Kinder arbeiten unterschiedlich schnell und die Arbeitsaufträge richten sich in fast allen Fächern immer an die schnellsten und fittesten Kinder in diesem Fach!

Wir können auch einen gesonderten Arbeitsplatz für schulische Arbeiten schaffen, der zu einer bestimmten Zeit verlassen oder umgeräumt wird. Wir können mit einem Ritual die „Arbeitszeit“ beenden (z.B. das Mittagessen oder das Kaffeetrinken, das Ausschalten und Wegräumen des Laptops, mit dem Hund rausgehen….) – ohne schlechtes Gewissen, auch wenn nicht alles erledigt ist!

Abschließende Bemerkungen

Rhythmus heißt nicht, dass der ganze Tagesablauf vorgegeben ist. Im Gegenteil: Kinder brauchen Zeit für Spiel (Zeiten vor dem Smartphone zählen dabei nicht als freies Spiel – auch wenn die Kinder am Smartphone „spielen“).

Eine Situation wie die derzeitige hat es in Deutschland außerhalb von Kriegszeiten meines Wissens noch nie gegeben: Ständig gibt es – völlig unvorhergesehen und oft scheinbar willkürlich – neue Vorgaben, Pflichten und Verbote; wer die „Biderman´s Chart of Coercion“ kennt, weiß, dass das Elemente einer erprobten Foltermethode sind, die Gefangene zutiefst verunsichern und hörig machen sollen.

Ich möchte mit zwei kurzen Ausschnitten des Lehrers und Traumaexperten Bernd Ruf abschließen, dessen Gedanken mir als Anregung für diesen Artikel dienten und die vielleicht Anregung zum eigenen Weiterdenken geben:

„Rhythmus ist Leben. Jede Rhythmusstörung schwächt und führt zu psychischem Unwohlsein. Traumatisierte Kinder leiden unter Störung vieler existenzieller Rhythmen, auf denen unsere physische und psychische Gesundheit beruhen, wie z.B. Verdauungs-rhythmus, Schlafrhythmus, Essrhythmus, Rhythmus von Erinnern und Vergessen, von Anspannung und Entspannung usw. Jede Form der Rhythmuspflege stärkt die Lebenskräfte, die Selbstheilungskräfte und damit das psychische Befinden. Deshalb ist es pädagogisch sinnvoll, mit den Rhythmen des Tages, der Woche, des Monats und des Jahres bewusst erzieherisch zu arbeiten. Auch die rhythmische Gestaltung des Alltags kann zur Traumabewältigung beitragen. Musikalische Rhythmusübungen, Lieder, Verse, rhythmische Spiele, Trommeln, rhythmische Klatschübungen usw. wirken im Traumakontext heilsam und restrukturierend.“

„Nach einem Trauma ist das Leben des Kindes aus den Fugen geraten. Rituale sind deshalb hervorragende Mittel zur Traumabewältigung. Sie schaffen inmitten der traumabedingten inneren Chaotisierung neue Ordnung, Orientierung und Sicherheit im Lebensalltag des Kindes und fördern dadurch den Heilungsprozess. Wichtige Rituale zur Neustrukturierung sind Einschlaf- und Aufwachrituale, Tischrituale, Mittagsruhe, regelmäßige Ernährung sowie eine geregelte und rhythmisierte Tagesgestaltung.“

(zitiert aus: Ruf, Bernd: Flucht – Trauma – Pädagogik, Karlsruhe 2016)

Svenja Herget