Das 9-10-jährige Kind – der „Rubikon“


„Meine Tochter hat keine Lust mehr zu lernen“, klagt eine Mutter. Auf die Frage nach dem Alter der Tochter antwortet die Mutter: „9“.
Rubikon – ein wichtiger Schritt in der Ich-Entwicklung eines jungen Menschen mit ungefähr 9 Jahren, der oft mit Ängsten, Albträumen, Einsamkeitsgefühlen und Lustlosigkeit oder auch Langeweile einhergeht. Manche Kinder trauen sich nun nicht mehr in den Keller, andere brauchen nachts wieder ein Licht oder sie sehen plötzlich ein Monster unter ihrem Bett.
Das Thema Tod taucht oft auf und das Buch „Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren (der dieses Thema behandelt) ist in diesem Alter sehr beliebt. „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner behandelt die Frage nach den eigenen Eltern, „Emil und die Detektive“ zeigt Kinder auf, die sich selbst in der Gemeinschaft helfen können, „Pippi Langstrumpf“ zeigt ein patentes Mädchen, das keine Angst hat und die Widrigkeiten des Lebens meistert. Das Alte Testament zeigt auf, wie die ersten Menschen auf der Erde lebten.
Diese und ähnliche Geschichten können Kinder in ihrer Entwicklung um das 9. und 10. Lebensjahr unterstützen und werden von Kindern in diesem Alter deshalb normalerweise geliebt.
Viele Mädchen finden in dieser Zeit Trost in Pferden, manche Kinder wollen alles durschauen und lieben Detektivspiele und gründen Clubs und kleine Banden.
Der Rubikon war ein Grenzfluss, an dem sich Gallien und das Römische Reich berührten. Caesar überschritt diesen Fluss angeblich mit den Worten: „Alea iacta est“ (Die Würfel sind gefallen).
Der Name bezeichnet also einen entscheidenden Schritt, der nicht mehr rückgängig zu machen ist – deshalb bezeichnete Rudolf Steiner diesen Entwicklungsschritt als „Rubikon“ (genaueres unter https://www.waldorf-ideen-pool.de/Schule/uebergreifend/paedagogik/kindesentwicklung/rubikon/der-rubikon—ein-meilenstein-der-ich-entwicklung
Die Waldorfpädagogik vergleicht die Situation, in der sich das Kind in diesem Alter befindet, auch mit dem Hinauswurf von Adam und Eva aus dem Paradies. Das Kind verlässt nun endgültig sein Kindheitsparadies und kommt auf der Erde an. Es nimmt bekannte und vertraute Dinge plötzlich anders und auf oft schmerzhafte Weise realistisch wahr. „Mama, du hast ja graue Haare“ oder „Der … ist dick!“ sind Aussprüche, die wir von Kindern in diesem Alter oft hören – sie nehmen das nun plötzlich wahr und es ist keinesfalls böse gemeint!
Die Welt der Märchen und des unbeschwerten, oftmals verträumten Kinderglücks ist nun endgültig vorbei.
Die Waldorfpädagogik schlägt für diese Lebens- und Gemütslage vor, dem Kind Tätigkeiten anzubieten, die es für sein „Leben auf der Erde“ braucht: Ackerbau (also etwas ansäen oder anpflanzen), Hausbau (z.B. eine Hütte bauen, sein Zimmer neu gestalten oder eine Nachbildung der eigenen Behausung zu gestalten) und Handwerk (Handwerker in der Umgebung kennen lernen, selbst etwas Handwerkliches herstellen). Zuhause könnten wir noch Kochen und Backen hinzufügen.
Das obige Mädchen war übrigens nicht untätig gewesen, nur weil es „nichts für die Schule getan“ hatte. Sie hatte vielmehr ihr Zimmer umgeräumt und einen Plan für eine Hütte im Garten gemacht, Samen für Kohlrabi gesät und etwas mit ihrer Freundin gekocht – sie hat also intuitiv genau das getan, was gerade für ihre Entwicklung gut ist.
Als ihre Mutter das hört, lehnt sie sich entspannt zurück – sie muss sich keine Sorgen machen. Im Gegenteil: Dadurch, dass sie ihrer Tochter den Freiraum gelassen hat, das zu tun, was ihr jetzt gerade gut tat, hat sie zu deren gesunder Entwicklung beigetragen.
Typisch für diese Zeit ist auch, dass Kinder nun vieles genau wissen wollen und die Welt nun mit Interesse wahrnehmen. Sie sind nicht mehr ganz in die Welt eingetaucht, sondern können sich Menschen und Gegenständen nun gegenüberstellen. Ein Verständnis für Grammatik entsteht und im Rechnen zeigen schriftliche Rechenverfahren, wie man praktisch mit größeren Zahlen umgeht.
Bis zur Pubertät folgt nun eine Zeit, in der die Kinder sehr vieles lernen und entdecken wollen und können.