Vorüberlegungen zum Homeschooling

Was ist selbstbestimmtes Homeschooling und welchen Weg möchten wir in unserer Familie gehen?

Im Text „Homeschooling: Die Nebenfächer in den Alltag integrieren“ habe ich aufgezeigt, dass schulisches Lernen nicht vorwiegend aus den Kernfächern Deutsch (in der Grundschule „Lesen und Schreiben“), Mathematik und Fremdsprachen, sondern auch noch aus vielen anderen Dingen besteht. So können Eltern ihren Kindern und Jugendlichen im Alltag vielerlei Möglichkeiten bieten, etwas, das in der Schule auf dem Stundenplan steht, vielleicht sogar auf viel tiefere und engagiertere – und damit nachhaltigere – Art zu lernen, als dies in der Schule geschehen kann und geschieht.

Doch wie sollen unsere Kinder zuhause die Kernfächer Deutsch (in der Grundschule Sprechen, Lesen und Schreiben), Mathematik (Rechnen), Fachunterricht in der Sekundar- und Oberstufe und Fremdsprachen lernen?

Homeschooling im ursprünglichen Sinn bedeutet, dass die Kinder entweder von den Eltern oder von einem Hauslehrer, also von einem Einzellehrer, zuhause beschult und unterrichtet werden. Letzteres können sich die wenigsten Eltern leisten. Vielleicht kann man für einzelne Fächer in der Oberstufe auch mal einen Nachhilfelehrer beschäftigen und ihn bitten, nicht nur „Nach-Hilfe“ zu geben (und somit einen Schulunterricht nachzuarbeiten), sondern ein Fach komplett nach dem Lehrplan zu unterrichten, zu dem beide Eltern überhaupt keinen Zugang haben.

Aber was spricht dagegen, sich selbst in das ein oder andere Fach einzuarbeiten und selbst noch die Befriedigung zu erleben, nie dagewesenes oder verloren gegangenes Wissen zu erwerben bzw. aufzufrischen und vielleicht am Ende sogar z.B. die Mittlere Reife in einigen Fächern noch mal mitschreiben zu können? Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass es sehr bereichernd ist, mit dem Kind eine Sprache aufzufrischen oder neu zu erlernen und das eigene Wissen in den verschiedenen Schulfächern zu erweitern! Mich persönlich hatte z.B. Geschichte in der Schule nie interessiert und mein Geschichtswissen beschränkte sich fast ausschließlich auf das letzte Jahrhundert. Wie spannend fand ich nun als Erwachsene die Geschichte Ägyptens, Griechenlands und Roms, die Völker-wanderungen, das Mittelalter, die Reformation und die vielen Ereignisse in der Neuzeit! Auch hatten wir in meinem „linken“ Gymnasium nach meiner Erinnerung fast keine Gedichte besprochen und gelernt und ich konnte fast kein Gedicht aufsagen – Gedichte waren mir bis vor kurzem auch völlig gleichgültig. Wie viele Gedichte habe ich im Homeschooling mit meinen Kindern kennen und lieben gelernt! Inzwischen habe ich eine wahre Leidenschaft für Gedichte entwickelt, von denen mir viele in schwierigen Zeiten Halt geben. Trotz eines sehr guten Schulabschlusses hatte ich immer den Eindruck, dass bei mir fast nichts hängen geblieben war – und meine Schulfreundin erzählt von sich dasselbe.

Wie können wir also in den Kernfächern vorhandenes Wissen unseren jüngeren Kindern vermitteln und uns neues Wissen gemeinsam mit unseren zumeist dann älteren Kindern aneignen?

Dabei stellen sich zu Beginn einige grundlegende Fragen:

1) Möchte ich in den verschiedenen Fächern möglichst nahe am Lehrplan bleiben? Vielleicht möchte ich das, weil es z.B. gerade eine rechtliche Regelung gibt, dass mein Kind nach jeder Einheit oder in gewissen Abständen Proben mitschreiben muss. Und weil mein Kind vielleicht auch wieder in die Schule gehen möchte, falls dort eines Tages eine „Normalität“ herrschen sollte, in der es leben und lernen möchte.

2) Oder möchte ich nur die Themen des Lehrplans aufgreifen (z.B. dem Kind lesen und schreiben beibringen, in Deutsch „deutsche Rechtschreibung“ oder „Gedicht-analyse“, in Mathematik „Bruchrechnen“ in Geschichte „Ägypten“, in Geografie „China“ u.ä.), mir jeweils ein gutes Buch dazu kaufen oder ein entsprechendes Museum oder eine Ausstellung besuchen und selbst entscheiden, welche Schwerpunkte ich setze?
Möchte ich vielleicht – aufgrund meiner eigenen Expertise oder/und weil es uns interessiert – meinem Kind Dinge beibringen, die überhaupt nicht im Lehrplan seiner Schulart stehen? Die Geschichte Russlands, Astrologie, Design … Früher wurde der Sohn des Handwerkers meist auch Handwerker, weil er das von seinem Vater so gut lernen konnte.
Dieser Weg eignet sich auch besonders gut für Waldorfschüler. Denn die Waldorfschule hat einen gebundenen Unterricht und folgt einem eigenen Lehrplan, auch wenn dieser sich in den oberen Klassen zum Teil stark am Gymnasiallehrplan orientiert. Dadurch, dass in der Waldorfschule aber keine oder kaum Tests geschrieben werden, kann ein Kind aus dem Homeschooling jederzeit wieder in die Klasse eingegliedert werden, ohne das Gefühl zu haben, im Stoff nicht mehr mitzukommen.
Dieser Weg eignet sich auch, wenn ich den Eindruck habe, dass die Schule auf absehbare Zeit sowieso nicht mehr so sein wird, wie sie einmal war, und wenn mein Sohn/meine Tochter sowieso die Institution Schule erst einmal nicht mehr besuchen möchte und wir das vielleicht ermöglichen können.

Beides bezeichne ich als „selbstbestimmtes Homeschooling“. Der ursprünglich eindeutige Begriff Homeschooling in der Zeit des Lockdowns oft auch dafür verwendet wurde, dass die Kinder zuhause Arbeitsaufträge aus der Schule erfüllen mussten. Hierfür trifft meines Erachtens der Begriff „Distanzlernen“ eher zu.
Selbstbestimmtes Homeschooling heißt also, dass die Eltern ihre Kinder zuhause selbst unterrichten und selbst bestimmen, was und wie sie das tun.

3) Oder möchten wir in unserer Familie den Weg eines echten „Freilernens“ beschreiten? Dabei übernimmt das Kind selbst die Verantwortung für sein Lernen, das Kind bestimmt also selbst, was es lernen möchte und wann es etwas lernen möchte.
Dann könnte unser Sohn oder unsere Tochter selbst entscheiden, ob er/sie nun einen Jugendroman über die Geschichte Amerikas liest oder lieber über China, ob er/sie sich lieber der Astrologie widmet oder eigene Werkstücke oder Handarbeiten herstellt. Da reformpädagogische Schulen wie die Waldorfschule oder die Montessorischule sowieso vom staatlichen Lehrplan unabhängig unterrichten, können Kinder, die diesen Weg gehen und später gerne wieder eine Schule besuchen möchten, dann auf eine reformpädagogische Schule (Waldorf-, Montessori-, Jena-Plan-Schule) wechseln oder einen externen Abschluss machen.

Manche Kinder, die von ihren Lehrern und Lehrerinnen während des Lockdowns „vergessen“ oder „vernachlässigt“ wurden, haben in dieser Zeit vielleicht schon die Erfahrung gemacht, dass sie selbst anfingen, sich Themen zu widmen, die sie interessieren und sind in dieser Zeit schon ein wenig „Freilerner“ geworden.

Das Vorgehen der einzelnen Lehrer in dieser auch für sie völlig unerwarteten Situation war sehr unterschiedlich: Manche schickten Arbeitsblätter und -aufträge in großer Zahl, sie hielten auf unterschiedliche Weise mehr oder weniger persönlichen Kontakt zu den einzelnen Schülern, manche boten zoom-Beschulung an, wieder andere überließen die Schüler in hohem Maße sich selbst, vielleicht weil sie selbst mit der ganzen Situation überfordert waren oder weil sie ihre Schüler in die Eigenverantwortung bringen wollten.
Dies stieß bei den einzelnen Kindern auf sehr unterschiedliche Reaktionen: Das eine Kind erfüllte gern und fleißig die zugeschickten Arbeitsaufträge, das andere Kind fühlte sich dadurch gegängelt und/oder überfordert. Ein Kind hätte gern mehr Materialien aus der Schule bekommen, ein anderes Kind genoss die Zeit ohne Anweisungen und entwickelten eigene Ideen.

Bevor wir uns also überlegen, welchen Weg unser Sohn/unsere Tochter und wir im kommenden Schuljahr beschreiten wollen, lohnt es sich, noch einmal über die Zeit des Lockdowns nachzudenken: Wie haben der oder die Lehrer das bei uns gemacht und wie hat unser Kind darauf reagiert?
Was war für uns schön und gut und was möchten wir beibehalten? Was möchten wir auf gar keinen Fall?
Und dann schauen wir nach vorn und fragen uns: Was möchten wir vielleicht ausprobieren?
Welcher Weg passt zu mir, zu meinem Sohn oder meiner Tochter und auch zu unserem Familienleben? Womit werden wir glücklich?

Der erste von mir oben aufgezeigte Weg (möglichst nahe am Lehrplan bleiben) hat den Vorteil, dass das Kind jederzeit den Anschluss an die staatliche Schule hat. Der Nachteil dabei ist, dass wir Gefahr laufen, sehr ins schulische Lernen hineinzukommen und wenig eigene Kreativität und Phantasie zu entwickeln und dass es sowohl uns Eltern als auch den Kindern dadurch meist weniger Freude und Spaß macht.

Der zweite Weg (die Themen des Lehrplans nur grob oder kaum aufgreifen und auch andere Themen mit hinzunehmen) hat den Vorteil, dass die Stärken und Interessen unserer Kinder stärker im Fokus stehen. Auch können wir Bücher verwenden, die uns ansprechen, ganz unabhängig davon, ob sie jetzt genau die Einzelbereiche beinhalten, die vom Kultusministerium für den Lehrplan der entsprechenden Jahrgangsstufe ausgewählt wurden. Wir sind freier und selbstbestimmter, wir können eher das Ganze im Blick behalten und verzetteln uns weniger in einzelne Fakten. Wir können eigene Ideen entwickeln und selbst kreativ werden. Wir können den persönlichen Fragen und Interessen des Kindes (und unseren eigenen) nachgehen und dadurch „Feuer fangen“. Was wir mit einem positiven Gefühl – also mit Interesse, Neugier, Begeisterung und Freude – lernen, bleibt eher haften.

Da ich mit dem echten Freilernen keine Erfahrung habe, möchte ich mich dem Homeschooling, also der häuslichen Beschulung unserer Kinder durch uns Eltern und evtl. noch unterstützende Personen, widmen. Es will auch Eltern Sicherheit bieten, die bei eventuellen Nachfragen aus der Schule oder vom Jugendamt vorweisen möchten, dass das Kind einfach nur zuhause beschult wird, der Bildungspflicht aber nachgekommen wird und das Kind „nichts verpasst“.

Der ein oder andere findet vielleicht auch einen Mittelweg zwischen den ersten beiden Wegen: In einem Fach möchten wir uns vielleicht mehr nach dem Lehrplan richten, in einem anderen fühlen wir uns sicherer und haben selbst genug Ideen zu einem vorgegebenen Thema. Besonders in Rechnen/Mathematik ist es oft sinnvoll, chronologisch vorzugehen, wie es auch der Lehrplan vorsieht. Und je länger wir ein selbstbestimmtes Homeschooling praktizieren, desto mehr entwickeln wir gemeinsam mit unseren Kindern unseren eigenen Weg.

Dieses Konzept richtet sich an Eltern, die sich mit Homeschooling bisher wenig beschäftigt haben. Viele Eltern haben jedoch im Frühjahr 2020 die Erfahrung gemacht, dass es ihren Kindern nicht geschadet hat, dass sie die Schule nicht besucht haben. Im Gegenteil: Viele Eltern sind überrascht und erstaunt, wie gut sich ihre Kinder ohne Schule entwickeln. Man ist versucht zu fragen: Bremst die Schule unsere Kinder in ihrer Entwicklung oder schadet sie ihnen sogar? Und manch einer ist versucht zu hinterfragen, ob das nicht vor den Corona-Maßnahmen auch schon so war.

Für viele Eltern war es ein Spagat, die Fülle an Arbeitsblättern und Arbeitsaufträgen aus der Schule während des Lockdowns zu bewältigen und oft gleichzeitig noch im Homeoffice arbeiten oder jüngere Geschwisterkinder betreuen zu müssen. Diese Situation traf die Familien ja völlig unvorbereitet! Das Familienleben musste sich neu einstellen. Jeder einzelne musste für sich und die Familie musste als Ganzes einen neuen Lebensrhythmus finden.
Eine Mutter schreibt: „Während des Homeschoolings war eigentlich nur die erste Woche so richtig stressig, bis wir uns alle umgestellt hatten und eine neue Struktur gefunden haben.“

Bei vielen von uns hat sich die berufliche (und manchmal auch die familiäre) Situation nun geändert. Vieles sehen wir nun in einem anderen Licht und Viele sehen auch ihre Kinder nun in einem ganz anderen Licht.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde es immer üblicher, die eigenen Kinder schon sehr früh fremdbetreuen zu lassen. Arbeitgeber erwarteten von jungen Müttern eine frühe Rückkehr an den Arbeitsplatz. Auch gesellschaftlich erlebten Mütter, die nicht arbeiten, oft weniger Akzeptanz. Mütter, die ihre Kinder nicht mit ein oder zwei Jahren in eine Kita gaben, waren eher in einer Ausnahmesituation und fanden für ihre Kinder oft nur wenige Spielkameraden.
Dabei weiß man, wie gut es für Kleinkinder ist, möglichst lange die enge Bindung zur Mutter oder zu möglichst wenigen engen Bezugsperson zu haben. Doch Tagesmütter, sind – auch aufgrund der hohen Auflagen – rar und waren oft schwer zu finden. Blieb die Kita mit ihrem zumeist geringen Betreuungsschlüssel, oft wechselnden Betreuern und hohem Lernpegel.
Noch vor 30 Jahren war es in Westdeutschland völlig unüblich, Kinder vor dem dritten Lebensjahr in den Kindergarten zu geben. Nicht wenige Kinder besuchten damals sogar überhaupt keinen Kindergarten und wuchsen bis zu ihrem 6. Lebensjahr mit der Familie, Geschwistern und/oder vielleicht Nachbarskindern auf und stehen heute erfolgreich im Arbeitsleben. In Ostdeutschland wurden die Kinder zwar schon früh in eine Einrichtung gegeben, in der Regel fanden die Kinder dort jedoch jahrelang täglich dieselben wenigen Betreuer vor, was heute in den meisten Kitas in Deutschland nicht mehr der Fall ist.

Viele Eltern haben daher in der Corona-Zeit die Kinder aus dem Kindergarten genommen und behalten diese seitdem zuhause. Ein „vorschulisches Lernen“ ist dabei überhaupt nicht nötig. Vorschulkinder, die mit möglichst wenig Medien aufwachsen („bis drei Medien-frei“) und in einem ruhigen Lebensumfeld aufwachsen, finden genügend Anregungen und lernen, sich selbst zu beschäftigen. Wachsmalkreiden, Knetgummi, Kasperletheater … je mehr die Spielsachen und herumliegenden Materialien zum eigenen Tun anregen, desto besser.

Während es in Deutschland keine Kindergartenpflicht gibt, ist das Herausnehmen aus der Schule zur Zeit rechtlich nicht so einfach möglich.
Darum soll es an dieser Stelle aber nicht gehen. Wir leben derzeit in einer Ausnahmesituation, die auch Chancen bietet und Ausnahmen zulässt, wie wir im ersten Halbjahr 2020 gesehen haben.

Viele Eltern wollen die Verantwortung für die Bildung und das ganzheitliche Wohl ihrer Söhne und Töchter nun selbst übernehmen – allein oder vielleicht im Zusammenschluss mit anderen Eltern aus der Nachbarschaft oder mit der Unterstützung von Personen aus der Nachbarschaft oder aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis.

Ich möchte in meinen Schriften wissenschaftliche Erkenntnisse zum Lernen vorstellen, Erfahrungen meines Homeschoolings mit unseren vier Kindern teilen, geeignete Bücher und Materialien empfehlen und vor allem Anstöße für eigene Ideen geben.

s.a. mein Buch “Bildung ohne Schule kann gelingen