Vom Umgang mit traumatischen Situationen
Ein Artikel aus dem Jahr 2021 –
Wir versuchen unseren Kindern derzeit traumatische Situationen zu ersparen:
PCR-Test, Absonderung in der Schule, Quarantäne, Diffamierung, Beleidigung, Mobbing, lautes Schimpfen u.Ä.
Leider wird uns dies nicht immer gelingen. Wir sind nicht immer anwesend und wir können unser Kind nicht immer beschützen. Eine Ergotherapeutin erzählte, dass vermehrt Schulanfänger und Grundschulkinder in ihre Praxis kommen würden. Der Grund sei Unruhe, Konzentrationsprobleme, schnelles Weinen, Aggressivität. Die Kinder kämen mit der neuen Normalität nicht zurecht. Eine Nachhilfelehrerin erzählte, dass sie an einem Tag mehrere Kinder unterrichtete, die ihr erzählten, dass sie derzeit viele 6er schreiben würden, weil sie sich nicht konzentrieren könnten. Dazu kommt vermehrtes Bettnässen, Einschlafstörungen, Depression u.ä. bis hin zum Selbstmordversuch.
Deshalb möchte ich im Folgenden einige Hinweise geben, wir wir unseren Kindern helfen können, gut durch diese Krise zu kommen und mit belastenden und
traumatischen Situationen umgehen zu können.
Auf meinem ersten Vortrag in Augsburg habe ich dargestellt, wie wir Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl in unserem Kind aufbauen können. Das schafft in unseren Kindern Resilienz, also eine innere Widerstandskraft. Man muss bedenken, dass Kinder dünnhäutiger sind als Erwachsene und durchlässiger für äußere Einflüsse. Sie sind schutzbedürftig. Und je jünger sie sind, umso weniger Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Situationen haben sie und umso weniger Bewältigungsmöglichkeiten konnten sie dafür entwickeln.
Doch Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl lassen sich nicht über Nacht aufbauen!
In der jetzigen Zeit ist es m.E. hilfreich, einige Erkenntnisse aus der Traumaforschung zu kennen. Auch eine schwere körperliche Verletzung wie bei einem Unfall kann übrigens ein Trauma sein. Im Folgenden sprechen wir aber von seelischen Verletzungen.
In Anlehnung an eine viel zitierte Definition von Fischer und Riedesser kann man ein Trauma bezeichnen als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer/ Riedesser 2009, S. 395).
Derartige lebensbedrohliche Situationen hat es in der Geschichte der Menschheitsentwicklung immer gegeben – für Menschen aus Urzeiten war dies z.B. die Begegnung mit einem wilden Tier -, und der Körper des Menschen ist dafür ausgestattet.
In einer derartigen als lebensbedrohlich erlebten Situation werden alle zum Überleben nicht nötigen Gehirnfunktionen heruntergefahren – das Denken wird also abgeschaltet und auch das Schmerzempfinden wird ausgeschaltet. Mit Hilfe archaischer, tief im Hirnstamm verankerter Muster kommt es zu reflexartigen Verhaltensweisen. Welche von diesen der Betroffene in diesem Moment auswählt, hängt vor allem von seinen früheren Erfahrungen ab.
Wenn einer unserer frühen Vorfahren z.B. einem Säbelzahntiger begegnete, blieben ihm drei Möglichkeiten, dem sicheren Tod zu entkommen: Er stellt sich dem Kampf (fight) in der Hoffnung, den Angreifer zu besiegen oder er versucht zu entkommen (Flucht-flight) oder er stellt sich tot bzw. erstarrt (freeze)
Diese drei Reaktionsweisen stehen uns in einer traumatischen Situation zur Verfügung.
Zwei Reaktionsweisen sind aktive Reaktionen und zeigen noch eine gewisse Handlungsfähigkeit: Kampf (fight) oder Flucht (fight).
Wenn dadurch aber kein Entkommen aus der Situation möglich ist, gerät der Betroffene in eine „traumatische Zange“ (Huber 2005) und es tritt eine Erstarrung (freeze) als Schockstarre ein, die dem archaischen Überlebensmuster Totstellen oder Aufgeben/ Vorbereitung zum Sterben entspricht. Diese Erstarrung hat schwerwiegendere Folgen für die Psyche, weil diese Ohnmacht im Gehirn gespeichert wird: „Ich kann mir nicht selbst helfen.“
Ein wichtiger Faktor ist auch, dass alle Einzelheiten während eines traumatischen Geschehens wie die Sinneseindrücke, die Körperhaltung, die Beziehungsaspekte, die Körperempfindungen und das Verhalten fragmentarisch gespeichert werden. Sie können später Auslöser (Trigger) dafür sein, dass der Betroffene das Ereignis als „Flashback“ innerlich noch einmal erlebt und die ganze Palette der damaligen Körperreaktionen hervorgerufen wird.
Da das Trauma durch die Trigger immer wieder an die Oberfläche drängt, gleichzeitig aber nicht integriert werden kann, kommt es zu verschiedenen Körperreaktionen, die klinisch posttraumatische Belastungsreaktionen oder -störungen genannt werden.
Je früher die Traumatisierung stattfindet, je jünger der Betroffene, bzw. das Kind ist, umso stärker sind die Auswirkungen von Traumata:
-die Schutzbedürftigkeit und die Abhängigkeit ist so groß
-die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten sind noch so gering
-es konnten sich noch so wenige gesunde Ressourcen ausbilden, und die Gehirnstrukturen sind noch so wenig ausgeprägt und so fragil und entwickeln sich nun mit und auf Grundlage dieser Traumaerfahrung weiter.
Auch die Dauer der Traumatisierung (z.B. bei Vernachlässigung im Kleinkindalter oder in unserem Fall das lange Anhalten der Corona-Maßnahmen) und die Häufigkeit der Wiederholung (z.B. bei sexuellem Missbrauch, aber auch bei Mobbing und Diffamierung) spielen eine wichtige Rolle.
Es gibt auch eine Hierarchie in der Schwere verschiedener traumatischer Situationen:
Wenn die Traumatisierung durch einen oder mehrere Menschen geschieht („man- made“), sind die Auswirkungen stärker, als wenn sie nicht von einem Menschen
ausgeht wie z.B. bei einer Naturkatastrophe oder einem Unfall, weil wir als soziale Wesen darauf angewiesen sind, den Mitmenschen zu vertrauen und weil dieses Vertrauen in der Tiefe zerstört wird.
Besonders dramatisch ist es, wenn die Traumatisierung von einer engen Bezugsperson ausgeht, weil damit das Vertrauen sogar in die Menschen erschüttert wird, die sonst für den Schutz zuständig sind.
Die engsten Bezugspersonen eines Kindes sind nach Familie und Verwandten für viele Kinder Klassenlehrer(in) und andere Lehrer(innen)!
Es kann also sein, dass unser Kind jetzt:
- schnell aggressiv reagiert („fight“)
- sich körperlich zurückzieht, „abhaut“ („flight“)
- phlegmatisch wird bzw. trotz körperlicher Anwesenheit doch innerlich abwesend ist, evtl. sogar erstarrt („freeze“)
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wir können froh sein, wenn unser Kind die Strategie „fight“ gewählt hat. Auch wenn das für Eltern sehr anstrengend ist, bleiben wir zumindest in Kontakt, auch wenn es eine Auseinandersetzung ist. Wenn das Kind äußerlich oder innerlich entschwindet, ist dies wesentlich schwieriger.
Das klingt sehr dramatisch und viele besorgte Eltern werden sich fragen: Was können wir jetzt tun? Auf was kann ich achten? Gibt es neben psychotherapeutischer Hilfestellung auch pädagogische Maßnahmen, die wir als Familie umsetzen können? Welchen Beitrag können wir selbst leisten?
Sofortmaßnahmen
Wenn unser Kind konkret ein schlimmes (z.B. demütigendes, schmerzhaftes…) Ereignis erlebt hat, empfehlen sich folgende Sofortmaßnahmen:
-körperliche Nähe, um die Erstarrung zu lösen: Erinnern wir uns daran, wie sich fremde US-Amerikaner nach dem Trauma am 11. September 2001 umarmten!
Nicht jedes Kind lässt das zu, aber wir können Offenheit signalisieren, da sein, bereit sein, z.B. untätig herumsitzen, sodass sich das Kind bei Bedarf auf den Schoß setzen kann, abends noch lange am Bett sitzen, das Kind wieder mit im Elternbett schlafen lassen, wenn es das möchte
-Überkreuz-Übungen, um die körperlichen und seelischen Anteile wieder zu integrieren: Händeklatschspiele, über Kreuz hüpfen (z.B. auf dem Straßenpflaster), Seil schwingen, mit Augen/Kopf/Hüfte/einem Bein die liegende 8 bilden, anthroposophisches Formenzeichnen mit vorwärts- und rückwärts-Bewegungen, tanzen, …
-Rhythmus: Wiedereingliederung in den gewohnten Tagesrhythmus und besondere Pflege desselben, um dem Kind durch die Tagesstruktur Halt zu geben; rhythmische Fingerspiele, Lieder, Reime, Sprüche. Dies kann helfen, das Kind aus der Schockstarre herauszuführen und wieder in einen ausgeglichenen Atemrhythmus zu bringen. (2)
-Bachblüten „Notfalltropfen“: eine sanfte naturmedizinische Art und Weise, wieder zu sich zu kommen. Nach einer akut belastenden Situation wirken einige Tropfen Bachblüten oft Wunder.
Dies sind Akut-Maßnahmen, die wenige Minuten in Anspruch nehmen und die wir möglichst SOFORT nach einer verletzenden/traumatischen Situation ergreifen können. Das Kind muss sich dessen überhaupt nicht bewusst werden.
Wir können z.B. wenn wir das Kind abholen, es erst ein Weilchen in den Arm nehmen oder auf dem Schoß wiegen (wenn das Kind das möchte und zulässt), dann im Auto ein Lied singen oder einen Spruch sagen, den das Kind sowieso kennt und gerne mag. Beim Heimlaufen über Kreuz über die Pflastersteine hüpfen und/oder mal stehen bleiben und ein Klatschspiel machen. Das wird vielleicht nicht so einfach gelingen, aber vielleicht lässt sich das Kind aus seiner Schockstarre oder Lethargie herausholen.
Weitere, auch längerfristige Maßnahmen
-gesunde Ernährung: auf die Ernährung achten; nicht: „Jetzt ist es sowieso egal, wir gönnen uns was Ungesundes“, sondern jetzt erst recht den Körper gut nähren.
Etwas Leckeres und Gesundes, aber natürlich etwas, das das Kind gerne mag. Z.B. biologisches Obst und Gemüse, wenn möglich in demeter-Qualität. Denn je natürlicher der Anbau war, desto mehr heilende Kräfte der Natur gelangen in den Körper.
-Bewegung in der Natur/Sonne, spazieren gehen:
Hier werden drei heilsame Elemente miteinander verbunden:
- Durch Bewegung kommt man aus der Schockstarre/Lethargie heraus und baut Aggression ab. Durch Laufen kommen wir wieder in einen Rhythmus, aus dem wir durch das traumatische Erlebnis herauskatapultiert wurden
- Natur: Wir können uns mit den heilsamen Kräften der Natur verbinden. Bäume haben dabei eine besondere Kraft. Die Luft im Wald ist sehr sauerstoffreich, extrem staubarm und angereichert mit pflanzlichen Botenstoffen, den Terpenen. Diese Terpene, kombiniert mit dem Duft der Mikroben im Waldboden, wirken auf uns wie eine natürliche Aromatherapie und haben noch dazu den Effekt der Stärkung unseres Immunsystems.
Gleichzeitig tauchen wir in den Rhythmus der Jahreszeiten ein und erleben Wachsen und Verwelken. Das stärkt unser Vertrauen in die Mutter Erde. Wir
erden“ uns. In der Natur können wir die Kräfte des Himmels und der Erde gleichermaßen in uns aufnehmen und uns mit ihnen verbinden.
Unsere Wahrnehmung wird auf das Schöne, Gute und Wahre gerichtet. Wenn wir jeden Tag denselben Weg gehen, können wir unseren Blick auf die jahreszeitlichen
Veränderungen richten und in den jahreszeitlichen Rhythmus eintauchen (2). - Sonne/kosmische Kräfte: Gerade im Herbst brauchen wir das Licht und die Wärme der Sonne. Lassen wir schönes Wetter nicht ungenutzt! -Spielen lassen – kein Stress: nach einer als traumatisch erlebten Situation kann das Kind nicht lernen. Stress, anstehende Verpflichtungen („wir müssen…“) und ungeliebte Anforderungen sind jetzt Tabu. Der Körper muss die aufgespaltenen Seelenanteile wieder integrieren und das Erlebte verarbeiten. Alles, wo es wieder „loslassen“ kann und aus der Schockstarre bzw. der Lethargie herauskommt, ist jetzt förderlich.
Wenn wir allerdings sehen, dass unser Kind immer wieder monoton dasselbe spielt, sollten wir versuchen, es dort rauszuholen.
(Wenn unser Kind z.B. nur noch mechanisch ein Auto immer wieder vor und zurück fahren lässt, können wir uns dazusetzen und es in ein Spiel verwickeln, wo das Auto auch woanders hin fährt. Wenn unser Kind mit der Kasperlepuppe immer dieselbe ausweglose Szene spielt, können wir mit einer anderen Kasperlepuppe die Situation behutsam zu einem positiven Ende bringen u.ä.)
-kreativ sein: Suchen wir etwas, das unser Kind sonst immer gern gemacht hat. Einem Kind, das gern mit Holz werkelt, können wir jetzt Holzarbeiten ermöglichen und z.B. die Werkbank an einen geeigneten und gut zugänglichen Ort stellen. Wir können eine einfache Strick- oder Häkelarbeit beginnen, mit Wasserfarben malen
u.ä. (3) Einem Kind, das gern mit Papa spazieren geht, bieten wir Spaziergänge mit Papa an. Versuchen wir, soviel „alte Normalität“ wie möglich herzustellen. Knüpfen wir
an Vergangenes an. Beobachten wir unsere Kinder genau. Welche Veränderungen stellen wir fest? Schreiben wir uns das auf.
Und wenn wir sehen, dass es Momente gibt, in denen sich die Schockstarre löst bzw. das Kind aus seiner Lethargie herauskommt und wenn es wieder aus ganzem Herzen lacht, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Wir dürfen das Kind aber nicht „ziehen“.
Wir Eltern können:
- Gelegenheiten bieten, indem wir z.B. laufen statt mit dem Auto fahren, sodass wir Gelegenheit zum Gespräch haben
- eine entsprechende Umgebung schaffen: Holz, Ton, Wachsmalkreiden, Wasserfarben, Kasperlepuppen u.ä. ansprechend bereitstellen
- eine gesunde Mahlzeit kochen
- Stress und Anspannung rausnehmen. das Kind bei Bedarf einen oder mehrere Tage von der Schule zuhause lassen, die Hausaufgaben nicht erledigen und darunter schreiben, dass dies an diesem Tag nicht möglich war
- anwesend sein: Hausarbeiten in der Nähe des Kindes erledigen und somit jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Und wenn uns dies nicht
möglich ist, dann eine Person des Vertrauens miteinbeziehenGemeinschaft pflegen: sich mit Freunden treffen, gemeinsam wandern, singen, spielen… - vorlesen: vertraute Momente schaffen, durch Geschichten dem Erlebten andere Bilder entgegensetzen; auch die Auswahl des Buches bzw. der Geschichte ist wichtig: Wie erging es dem Romanhelden? Wie fühlte er oder sie? Wie ist er oder sie mit schwierigen Situationen in seinem Leben umgegangen? (4)
- singen und gemeinsam musizieren und die eigene Umgebung damit in eine heilsame Schwingung bringen (5)
Svenja Herget, November 2021
1) www.homeschooling-wagen.org/vortraege/
2) s. www.homeschooling-wagen.org/homeschooling-und-lerngruppen/
Text „Rhythmen und Rituale“
3) s. www.homeschooling-wagen.org/faecher/ Text „Malen und Plastizieren“
4) s. www.homeschooling-wagen.org/homeschooling-und-lerngruppen/
Text „Eine Auswahl guter Kinder und Jugendbücher“
5) s. www.homeschooling-wagen.org/homeschooling-und-lerngruppen/
Texte „Musik-Singen“ und „Musizieren“
Literatur:
Fischer, G., Riedesser, P.: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München 2009.
Huber, Michaela: Trauma und die Folgen, 2005
Hüther, Gerald: Biologie der Angst, Göttingen 2012
Ruppert, Franz: Seelische Spaltung und innere Heilung, Stuttgart 2014